Kann es sein, dass einige politische und kulturelle Rollen derzeit  weltweit neu verteilt werden? Es könnte sein, meint Noam Chomsky, und er  ist sich sicher, dass seine Beobachtungen mehr als bloß "wishfull  thinking", Tagträume eines linken Intellektuellen sind. Es ändert sich  derzeit einiges, ändert er, auch in seinem eigenen Land, den USA. Tea  Party, christliche Fundamentalisten, Waffennarren: ein merkwürdiges, ein  verquastes Weltbild greife in seiner Heimat um sich. Ein Weltbild  allerdings, das irdische konkrete Ursachen habe.
Verbitterung  im Westen, Aufbruchstimmung im Osten - eine verkehrte Welt, jedenfalls  aus traditioneller Perspektive. Aber die, meint Chomsky, wird sich  umstellen müssen, und zwar schleunigst. Sonst verpasst sie nämlich den  Anschluss an die Realitäten. Und damit an die Einsicht, dass die  arabische Welt vom Westen zumindest in politischer Hinsicht nicht viel  wissen soll. Aus guten Gründen, meint Chomsky. Denn der Westen stehe den  arabischen Revolutionen nur bedingt freundlich gegenüber. Eigentlich  aber noch nicht einmal das.
Das  ist merkwürdig. Denn eigentlich haben die Amerikaner mit Barack Obama  doch einen Hoffnungsträger an ihre Spitze gewählt, eine Lichtgestalt des  internationalen Dialogs, einen Menschen, der es im Handumdrehen zum  Friedensnobelpreisträger brachte. Gut möglich, dass das eine verzerrte  Wahrnehmung ist, meint Chomsky. Angesichts der arabischen Revolutionen  verhalte Obama sich ausgesprochen zaghaft. Warum?
Aber  noch sind die USA die politisch und ökonomisch bedeutendste Macht der  Welt. Also müssten sie sich an die Spitze einer fortschrittlichen, will  bei Chomsky sagen: linken Politik stellen. Ob sie das aber tun werden.  Chomsky ist nicht unbedingt ein Pessimist. Aber ein Optimist in er in  dieser Frage auch nicht.
 getroffen..
Zeitweilig galt er als meistzitierter Mann der Welt.  Und wer die Einträge auf Noam Chomskys Publikationsliste zählt, ist  geneigt das zu glauben: Über 70 Bücher und mehr als 1000 Artikel hat der  82-Jährige veröffentlicht. Mit seinem Konzept der 'Universalen  Grammatik' prägte er die moderne Linguistik maßgeblich. Doch kennen  viele Chomsky vor allem auch als streitbaren Intellektuellen und  Aushängeschild der Globalisierungs-Kritiker, als "Pop-Ikone des  Widerstands". 
 Als "Weltintellektuellen" bezeichnet ihn Andreas  Speer, Professor für Philosophie an der Universität Köln, der Chomsky  für die Albertus-Magnus-Gastprofessur gewinnen konnte. Am 6. und 7. Juni  wird Chomsky zwei öffentliche Vorlesungen halten.  
 Die Video-Mitschnitte der beiden Vorlesungen von Professor Noam Chomsky am 6. und 7. Juni 2011 in der Aula der Universität zu Köln stehen ab Freitag (10. Juni) auf der Homepage der Universität zu Köln (
) zum Download zu Verfügung.   
           Vorlesungen
           Montag, 6. Juni, 19.30 Uhr, Aula (1 & 2) der Universität (Hauptgebäude):
   1. Vorlesung: »Language and Other Cognitive Systems: What is Special about Language?«
  
 Dienstag, 7. Juni, 19.30 Uhr, Aula (1 & 2) der Universität (Hauptgebäude):
   2. Vorlesung: »The Evolving Global Order: Prospects and Opportunities.«
 
 
 Seminar (Anmeldung obligatorisch)
                        Mittwoch, 8. Juni, 13.30 Uhr, Tagungsraum im Seminargebäude (Albertus-Magnus-Platz):
             Seminar mit Professor Noam Chomsky
             (Teilnahme nur nach vorheriger Anmeldung)

  Universität zu Köln

  Bei den Feierlichkeiten anlässlich des 25. Jubiläums von 'Fairness  und Accuracy in Reporting' (FAIR), einer amerikanischen  Medien-Watchgroup, analysierte der weltberühmte politische Dissident und  Linguist Noam Chomsky in seiner Rede die Reaktionen der USA auf die  Aufstände, die im Nahen/Mittleren Osten sowie in Afrika aufgeflammt  sind: "Überall (im Mittleren Osten) glaubt die Mehrheit der Bevölkerung,  dass die USA ihre  Interessen bedrohen", so Chomsky. "Der Grund ist  ganz simpel: Im Grunde wollen die USA und deren Verbündete keine  Regierungen, die auf den Willen des Volkes hören, (denn) falls dies  geschieht, werden die USA nicht nur die Kontrolle über diese Region  verlieren, sondern hinausbefördert werden."
 Amy Goodman:
 Wenden wir uns der New Yorker Organisation FAIR zu, die sich für eine  faire und akurate Medienberichterstattung einsetzt. Sie hat soeben  ihren 25. Jahrestag begangen. Seit 25 Jahren erstellt FAIR Berichte, in  denen Voreingenommenheit und Zensur in den Medien angeprangert werden  sowie gewisse Medienpraktiken, die sich nicht um das öffentliche  Interesse, um Minderheiten oder abweichende Meinungen scheren.
  Hunderte hatten sich zu der Feier eingefunden. Einer der Redner war  der weltberühmte politische Dissident und Linguist Noam Chomsky. Hier  einige Auszüge aus seiner Rede an die Festgäste des FAIR-Jubiläums:
Noam Chomsky: Die USA und deren Verbündete werden alles tun, um echte Demokratie in  der arabischen Welt zu verhindern. Der Grund ist simpel: Überall in der  Region glaubt die Mehrheit der Bevölkerung, dass die USA die größte  Bedrohung für ihre Interessen sind. Die Opposition gegen die US-Politik  ist so enorm, dass eine beträchtliche Mehrheit sogar der Meinung ist,  die Region wäre sicherer, wenn der Iran im Besitz von Atomwaffen wäre.  Im wichtigsten Land - Ägypten - glauben dies 80 Prozent. In anderen  Ländern lassen sich ähnliche Zahlen finden. Nur Wenige in der Region  sehen im Iran eine Bedrohung - rund 10 Prozent. Es ist offensichtlich,  dass die USA und deren Verbündete keine Regierungen wollen, die auf den  Willen des Volkes hören, denn falls dies geschieht, werden die USA nicht  nur die Kontrolle über diese Region verlieren sondern auch  hinausbefördert werden. Natürlich wäre ein solches Resultat für sie  nicht zu tolerieren.
 Zum Thema WikiLeaks: Es gibt einen interessanten Nebenaspekt, was die  WikiLeaks-Veröffentlichungen zu diesem Thema angeht. Die  Veröffentlichungen durch WikiLeaks, die am meisten Verbreitung fanden -  euphorisch kommentiert wurden, Schlagzeilen machten und so weiter -  waren jene, in denen stand, arabische Staaten würden die amerikanische  Iranpolitik unterstützen. Es ging um angebliche Zitate arabischer  Diktatoren. Die arabische Bevölkerung wurde nicht erwähnt; schließlich  spielte sie ja keine Rolle. Was ist das Problem - wenn diese Diktatoren  uns unterstützen? Solange sie ihre Bevölkerung im Zaum halten? So ist er  nun einmal, der Imperialismus. Was ist das Problem - solange es  funktioniert? Solange diese Leute ihre Bevölkerungen in Schach halten,  ist doch alles okay, oder? Gönnt ihnen ihre Hasskampagnen. Ihre  Diktatoren halten sie ja unter Kontrolle, und diese Diktatoren sind uns  (den USA) freundlich gesinnt. Das (was ich eben geschildert habe,) war  nicht nur die Reaktion des diplomatischen Dienstes im  US-Außenministerium - beziehungsweise die der Medien in ihrer  Berichterstattung -, auch die intellektuelle Gemeinde hat im Allgemeinen  so reagiert. Kommentare finden sich nicht. Im Grunde wird über die oben  erwähnten Umfragen in den USA nichts, aber auch gar nichts gebracht -  buchstäblich nichts. In England gab es einige Kommentare, aber auch hier  hielt es sich sehr, sehr in Grenzen. Es scheint einfach unerheblich zu  sein, was die (arabische) Bevölkerung denkt. Hauptsache, sie ist unter  Kontrolle.
 Anhand dieser Betrachtungen fällt es nicht schwer - ist es ein  kleiner Schritt - um zu verstehen, wie die künftige Politik aussehen  wird. Man könnte sie praktisch vorhersagen: Ein Land, in dem es reiche  Ölvorkommen gibt und in dem ein gehorsamer Diktator herrscht, hat freie  Hand. Hier kommt Saudi-Arabien die wichtigste Rolle zu. Saudi-Arabien  ist das Zentrum des islamischen Fundamentalismus und in dieser Hinsicht  das extremste und repressivste Beispiel. Von Saudi-Arabien schwärmen  Missionare aus, die einen ultraradikalen Islamismus verbreiten. Er kommt  von Dschihadisten usw.. Andererseits hat Saudi-Arabien eine gehorsame,  verlässliche Regierung. Folglich können sie tun, was sie wollen. Auch in  Saudi-Arabien war eine Demonstration geplant. Doch die Polizeipräsenz  war so massiv und so einschüchternd, dass sich buchstäblich niemand auf  die Straße wagte - in Riad. Das ist okay, oder? Nicht anders ist die  Situation in Kuwait. Dort kam es zu einer kurzen Demo, die im  Handumdrehen unterdrückt wurde. Kein Kommentar.
 Der interessanteste Fall, in meinen Augen, ist Bahrain. Aus zwei  Gründen ist das Land ein ziemlich interessantes Beispiel. Der erste  Grund ist, dass hier der Heimathafen der U. S. Fifth Fleet (Fünfte  Flotte der US Navy) liegt. Sie ist ein wichtiger militärischer Faktor in  der Region. Der zweite, grundlegendere, Grund ist die Tatsache, dass  rund 70 Prozent der Bevölkerung des Inselstaates Schiiten sind. Bahrain  liegt Saudi-Arabien (Ost-Saudi-Arabien) direkt gegenüber. Auch dort  leben Schiiten. Die größten Ölvorkommen Saudi-Arabiens liegen im Osten  des Landes. Saudi-Arabien ist natürlich der größte Ölproduzent - seit  den 40ger Jahren. Es ist eine seltsame Laune der Natur beziehungsweise  der Geschichte, dass die meisten Energievorkommen in Regionen mit  schiitischer Bevölkerung liegen. Die Schiiten sind im Mittleren Osten  eine Minderheit. Allerdings leben sie zufällig dort, wo das Öl ist,  nämlich rund um den nördlichen Golf: im Osten Saudi-Arabiens, im Süden  des Irak und im Südwesten des Iran. Sein langem sorgen sich die Planer  (Strategen), dass sich die Schiitenregionen zu einer stillschweigenden  Allianz verbinden könnten -  für eine Entwicklung in Richtung  Unabhängigkeit und Kontrolle über die größten Ölreservern der Erde.  Natürlich wäre dies nicht zu tolerieren.
 Kommen wir zurück zu Bahrain, wo es zu einem Aufstand gekommen ist.  Auf dem zentralen Platz (dem Kairoer Tahir-Platz vergleichbar) wurde  eine Zeltstadt errichtet. Doch dann marschierten Truppen - unter  saudischer Führung - in Bahrain ein. Die Sicherheitskräfte des  Inselreiches bekamen auf diese Weise die Chance, die Sache gewaltsam  niederzuschlagen. Sie zerstörten die Zeltstadt. Sie zerstörten sogar die  'Perle', das Wahrzeichen Bahrains. Sie stürmten das größte Krankenhaus,  zerrten Patienten und Ärzte hinaus. Regelmäßig, Tag für Tag, werden  Menschenrechtsaktivisten verhaftet und gefoltert. In manchen Fällen  bekommen sie Schläge auf die Handgelenke - was soll's, oder? In dieser  Hinsicht gelten in erster Linie die 'Carothers-Prinzipien': Wenn eine  Handlungsweise unseren ökonomischen und strategischen Zielen nützt, ist  sie okay. Man könnte es eleganter umschreiben, doch was zählt, sind  Fakten.
 Soviel zu den gehorsamen Diktatoren in Staaten mit großen  Ölvorkommen. Doch was ist mit Ägypten? Ägypten ist ein wichtiges Land.  Andererseits ist es kein Zentrum der Ölförderung. Für Ägypten, Tunesien  und andere Staaten dieser Kategorie gelten bestimmte Spielregeln, die  regelmäßig angewendet werden - so regelmäßig, dass man schon fast ein  Genie sein müsste, um sie NICHT zu sehen. Was die Lieblingsdiktatoren  angeht: Falls Sie vorhaben, in den diplomatischen Dienst zu gehen,  nehmen Sie sich folgende Lektion zu Herzen: Wenn ein Lieblingsdiktator  (der USA) in Schwierigkeiten gerät, gilt es, ihn zu unterstützen,  solange es möglich ist - mit aller Kraft, solange es möglich ist. Ist es  nicht mehr möglich, ihn zu unterstützen, weil sich zum Beispiel die  Armee oder die Geschäftswelt gegen ihn gewendet hat, schicken Sie ihn in  die Wüste. Das ist der Zeitpunkt für vollmundige Erklärungen. Sagen  Sie, wie sehr Sie die Demokratie lieben. Gleichzeitig sollten sie  versuchen, das alte Regime wiederherzustellen - vielleicht mit anderen,  neuen, Namen. So lief und läuft es ständig. Natürlich gibt es keine  Erfolgsgarantie, aber sie versuchen es immer wieder - siehe Somoza in  Nicaragua, siehe der Schah im Iran, siehe Marcos auf den Philippinen,  siehe Duvalier auf Haiti, siehe Chun in Südkorea, siehe Mobutu im Kongo,  siehe Ceausescu in Rumänien (ein früherer Liebling des Westens) oder  Suharto in Indonesien. Es ist absolute Routine. Genau dasselbe spielt  sich nun in Ägypten und Tunesien ab. Wir haben Mubarak bis zum Schluss  unterstützt - bis zu allerletzt. Als es nicht mehr ging, schickten wir  ihn nach Sharm el-Sheikh. Wir verlegen uns auf Rhetorik, während wir  gleichzeitig versuchen, das alte Regime wiederherzustellen. Darum geht  es, darum dreht sich der aktuelle Konflikt. Wie Amy (Goodman) schon  gesagt hat: Wir wissen nicht, in welche Richtung das Pendel letztendlich  ausschlagen wird, aber dies ist der augenblickliche Stand der Dinge.
 Es gibt noch eine weitere Kategorie. Stellen Sie sich den Diktator  eines Landes mit reichen Ölvorkommen vor, der nicht mehr  zurechnungsfähig ist, ein unberechenbarer Hassardeur. Gemeint ist  Libyen. In diesem Falle kommt eine andere Politik zur Anwendung:  Versuche, einen verlässlicheren Diktator zu finden. Genau das geschieht  derzeit. Natürlich wird es als 'humanitäre Intervention' verbrämt. Auch  das ist - historisch gesehen - fast schon eine Allzweckwaffe. Werfen Sie  einen Blick auf die Geschichte. Fast immer, wenn Gewalt ins Spiel kam -  gleichgültig durch wen -, war dies von sehr hehrer Rhetorik begleitet:  Es ging natürlich einzig und allein um das Humanitäre, als Hitler in der  Tschechei einmarschierte, als das faschistische Japan in den Nordosten  Chinas einfiel, als Mussolini in Äthopien einfiel. (historische  Ausnahmen sind dünn gesät). Man fabriziert sie (diese Rechtfertigungen),  und die Medien beziehungsweise Kommentatoren verbreiten es und tun so,  als ob sie nicht wüssten, dass diese Rhetorik keinerlei  Informationsgehalt hat und rein reflexiv ist.
 In Fällen wie diesen kann noch eine weitere Zutat hinzukommen - auch  dies wurde und wird immer wieder praktiziert, vor allem von den USA und  deren Verbündeten: Gemeint ist die Intervention als Reaktion auf eine  Bitte, zum Beispiel der Arabischen Liga. Natürlich müssen wir uns über  die Bedeutung im Klaren sein. Die Bitte der Arabischen Liga (im Falle  Libyens) war sehr verhalten, und wurde rasch zurückgezogen, weil der  Arabischen Liga nicht gefiel, was wir unternahmen. Davon abgesehen,  hatte die Arabische Liga noch eine zweite Bitte. Eine Zeitung brachte  folgende Schlagzeile: 'Arab League Calls for Gaza No-Fly Zone' (Die  Arabische Liga fordert Flugverbotszone für Gaza'). Dieses Zitat habe ich  der britischen 'Financial Times' entnommen. In den USA wurde darüber  nicht berichtet. (Nun, um korrekt zu sein, die 'Washington Times'  berichtete darüber.) Im Grunde wurde sie (die Information) in den USA  abgeblockt -  so wie die Ergebnisse der Meinungsumfragen in der  arabischen Öffentlichkeit (siehe oben). Nachrichten dieser Art wollen  wir nicht. 'Die Arabische Liga fordert Flugverbotszone für Gaza' - so  eine Nachricht passt nicht zur US-Politik. Wir müssen ihr keine  Beachtung schenken und ihr nicht gerecht werden. Sie verschwindet  enfach.
 Über andere Meinungsumfragen wird durchaus berichtet. Erst vor  wenigen Tagen berichtete die 'New York Times' über eine solche. Ich  zitiere: "Die Meinungsumfrage hat ergeben, dass eine Mehrheit der  Ägypter den Friedensvertrag mit Israel, von 1979, annullieren wollen,  (und) dies ist ein Eckstein der ägyptischen Außenpolitik und der  Stabilität in der Region."* Nein, das ist nicht ganz korrekt. Im Grunde  ist (dieser Friedensvertrag) ein Eckstein der Instabilität in der  Region. Das ist auch der Grund, weshalb die ägyptische Bevölkerung ihn  abschaffen will. Im Grunde ging es bei diesem Abkommen darum, Ägypten  aus dem israelisch-arabischen Konflikt herauszuhalten: Der einzige  potentielle Abschreckungsfaktor für Israels Militäraktionen wurde aus  dem Spiel genommen. Dadurch bekam Israel freie Hand, um seine  Operationen - illegale Operationen - in den Besetzten Gebieten  auszuweiten und das nördliche Nachbarland Libanon anzugreifen. Kurze  Zeit nach Abschluss des Friedensvertrages griff Israel den Libanon an  und tötete 20 000 Menschen. Israel zerstörte den Südlibanon und  versuchte dort ein Klientenregime zu installieren. Das hat nicht ganz  geklappt. Man zeigte Verständnis. Die unmittelbare Reaktion in Israel  auf das Friedensabkommen mit Ägypten war folgende: Es enthält Punkte,  die uns nicht behagen - zum Beispiel, dass wir unsere Siedlungen auf dem  Sinai aufgeben müssen, auf dem ägyptischen Sinai, wohlgemerkt -, aber  er hat auch sein Gutes, weil wir den einzigen Abschreckungsfaktor  losgeworden sind; von nun an können wir gewaltsam und brutal vorgehen,  um unsere übrigen Ziele zu verwirklichen. Genauso ist es gekommen. Das  ist exakt der Grund, weshalb die ägyptische Bevölkerung gegen ihn (den  Friedensvetrag mit Israel) ist. Sie haben es begriffen - wie alle  anderen in der Region auch.
 Andererseits hat die 'New York Times' nicht gelogen, als sie schrieb,  der Vertrag habe zur Stabilität in der Region geführt. Der  entscheidende Punkt ist die Frage: Wie interpretiert man 'Stabilität'?  Welche funktionale Bedeutung hat das Wort? Mit dem Begriff 'Stabilität'  verhält es sich ähnlich wie mit dem Begriff Demokratie'. 'Stabilität'  bedeutet, dass eine Sache im Sinne unserer Interessen läuft. Wenn der  Iran versucht, seinen Einfluss in Afghanistan und anderen Nachbarstaaten  auszudehnen, heißt es, er destabilisiere die Region. Wenn die USA in  diese Länder einmarschieren und sie besetzen, sie halb zerstören, so  dient dies der Stabilität. Diese Sichtweise hat sich eingebürgert - so  sehr, dass der ehemalige Redakteur von 'Foreign Affairs' über den Sturz  der chilenischen Regierung durch die USA und die Einsetzung einer üblen  Diktatur schreiben konnte, dies sei geschehen, weil die USA Chile  destabilisieren mussten, um Stabilität zu erreichen. Er brauchte nur  einen Satz, um dies alles unterzubringen. Dennoch fiel es niemandem auf.  Im Grunde ist es korrekt - vorausgesetzt, man versteht die Bedeutung  des Wortes 'Stabilität' richtig. Yeah, stürze eine parlamentarische  Regierung, installiere eine Diktatur, marschiere in ein Land ein, töte  20 000 Menschen, marschiere in den Irak ein und töte Tausende - und das  alles zum Nutzen und Frommen der Stabilität. Instabilität bedeutet:  Jemand kommt uns in die Quere.
                                   Ägypten, Tunesien, der Nahe und Mittlere Osten, Indien, die Klassenfrage...                       
  	                                       Ein Interview mit Kindle India                       
                            
     	    von Noam Chomsky  29.03.2011
Pattanayak:
Prof. Chomsky, wie sehen Sie die Konturen der aktuellen Krisen in Tunesien, Ägypten und im übrigen Nahen und Mittleren Osten?
  Noam Chomsky:
Der  Ursprung der Krisen in der arabischen Welt reicht wirklich sehr weit  zurück. Sie erinnern uns an jene Prozesse, als die Welt noch  kolonialisiert war. In den 50ger Jahren drückten es US-Präsident  Eisenhower und sein Stab ziemlich deutlich aus. Bei einer internen  Diskussion (die heute nicht mehr der Geheimhaltung unterliegt) fragte  Eisenhower sein Team, warum in der arabischen Welt eine "Hasskampagne",  so Eisenhower, gegen uns laufe - eine Kampagne, die nicht von den  Regierungen dieser Region ausgehe, denn diese seien mehr oder weniger  harmlos, sondern von einem Teil der dortigen Bevölkerung. Hierauf  verfasste das wichtigste Planungsgremium der USA, der 'Nationale  Sicherheitsrat' (NSC) ein Memorandum - mit dem Ergebnis: Amerika werde  in der arabischen Welt tatsächlich als eine Kraft gesehen, die harte,  üble Diktatoren fördere und Entwicklungen sowie die Demokratie hemme, um  Kontrolle über Ressourcen zu erlangen - in diesem Falle über  Energieressourcen. Weiter heißt es (in dem Memorandum), dass diese  Sichtweise zum größten Teil korrekt sei, und dass wir ruhig so  weitermachen sollten.
Doch dieses grundlegende Prinzip gilt nicht  allein für die arabische Welt. Marwan Muasher hat es vor kurzem,  während der spektakulären Rebellion in Ägypten, auf den Punkt gebracht.  Muasher - ein ehemaliger hoher jordanischer Offizieller - leitet heute  die Forschungen der Carnegie-Stiftung zum Thema 'Mittlerer Osten'. Er  sprach von folgender allgemeingültiger Doktrin: Solange die Menschen  sich ruhig und passiv verhalten und unter Kontrolle sind, gibt es kein  Problem, und wir können machen, was wir wollen. Vielleicht hassen sie  uns, doch was spielt das für eine Rolle? Wir können trotzdem machen, was  wir wollen. Dieses Prinzip gilt nicht nur für die arabische Welt und  für Indien. Es trifft auch auf die USA zu. Es ist ein Standardprinzip  der Dominanz. Natürlich kommt es bisweilen vor, dass Menschen ihre  Ketten sprengen. In solchen Fällen müssen Eingeständnisse gemacht  werden. Was aktuell in Ägypten geschiet, ist zwar dramatisch aber nicht  atypisch. Immer wieder kommt es vor, dass sich die USA und andere  Imperialmächte gezwungen sehen, ihre Lieblingsdiktatoren fallenzulassen,  weil diese nicht länger zu halten sind. Es gibt feste Spielregeln, die  auch im Falle Ägyptens befolgt wurden. Unterstütze den Diktator solange  es geht - gemäß der Muasher-Doktrin, das heißt, solange Ruhe im Land  herrscht und somit keine Probleme bestehen. Sollte der Diktator nicht  mehr zu retten ist, schiebe ihn beiseite und gib eine Stellungnahme ab,  in der viel von unserer Liebe zur Demokratie und von Feiheitsliebe die  Rede ist - ganz im Stile Reagans. Versuche währenddessen, möglichst viel  vom alten System zu retten. Genau dieses Szenario erleben wir heute in  Ägypten. Wie gesagt, es passiert immer wieder.
Pattanayak:
Glauben Sie, dass es in Indien zu einem ähnlichen Aufstand kommen wird? Oder anders gefragt, was hält Indien noch zurück?
Noam Chomsky:
Sehen  wir uns Indien an. Zum einen findet dort bereits eine große Rebellion  statt. Weite Teile des Landes stehen in Flammen. Die Stammesgebiete  befinden sich praktisch im Aufruhr. Ein großer Teil der Indischen Armee  ist damit beschäftigt, sie niederzuhalten.
Pattanayak:
Sie sehen also eine Parallele zwischen den beiden Aufständen?
Noam Chomsky:
Hm.  Ich glaube, die eigentliche Frage in Bezug auf Indien lautet... Es gibt  dieses berühmte farbenprächtige Bild Indiens. Für einen Teil der  Bevölkerung trifft dies sicher zu - schließlich ist Indien ein sehr  großes Land. Für eine signifikante Zahl trifft es also zu. Doch rund  Dreiviertel der Bevölkerung sind, so denke ich, ausgeschlossen - das ist  die Kehrseite. Die Zahl der Milliardäre in Indien steigt fast so  schnell wie die Zahl der Kleinbauern-Selbstmorde. Die Analogie (zwischen  Ägypten und den indischen Stammesgebieten) liegt meiner Ansicht nach  nicht so sehr in den Geschehnissen sondern in dem massiven Leid, das  mehrere hundert Millionen Menschen (hier wie dort) erfahren.
Pattanayak:
Absolut. Es gibt eine große Kluft zwischen den Klassen.
Noam Chomsky:
In Indien ist diese Kluft dramatisch. Das Elend in Südasien...
  
Pattanayak:
Und diese Kluft wächst heute ...
Noam Chomsky:
Sie  wächst. Global gesehen ist sie die schlimmste - schon seit langem.  Sehen Sie sich den 'Human Development Index' der UNO an... Das letzte  Mal, als ich einen Blick darauf warf, lag Indien ungefähr auf Platz 120.  Das war vor 20 Jahren, zu Beginn der so genannten "Reformen".
Pattanayak:
Seit dieser Zeit ging es qualitativ weiter bergab.
Noam Chomsky:
Nun,  die Frage ist doch: Wie lange werden sich die Massen noch passiv und  apathisch verhalten, so dass man auf ihre Probleme keine Rücksicht zu  nehmen braucht?
Pattanayak:
Prof. Chomsky, Arundhati Roy bekam  wegen 'Volksverhetzung' Ärger, weil sie gesagt hat, die Bevölkerung von  Kaschmir habe ein Recht auf Selbstbestimmung. Wie stehen Sie zu der  Frage der Selbstbestimmung, vor allem hinsichtlich Kaschmir?
Noam Chomsky:
Zunächst  möchte ich sagen, dass Indien Arundhati Roy ehren sollte. Sie sollte  geehrt werden, weil sie ein Symbol dafür ist, wie groß Indien sein  könnte. Die Tatsache, dass sie wegen 'Volksverhetzung' belangt wird, ist  schlicht empörend. Dieser organisierte Hass, dieser organisierte Zorn  gegen sie - das ist wirklich eine Schande. Arundhati Roy ist eine  großartige Person.
Was Kaschmir betrifft, so gehen die Probleme  auf die Zeit der Teilung zurück. Alle Seiten tragen Mitverantwortung -  und nicht zu knapp. Natürlich hat Indien das Referendum verweigert, das  eine Vorbedingung für die Teilung gewesen wäre. (Indien) hat sich das  Gebiet im Grunde genommen. In dem (darauffolgenden) Konflikt entstand  dann die Grenze (Line of Control). Es gab damals sehr viel Gewalt und  Unterdrückung. Ende der 80ger Jahre fanden Wahlen statt, die durch und  durch manipuliert waren. Daraufhin kam es zu einem Aufstand, der äußerst  brutal niedergeschlagen wurde. In dem von Indieh kontrollierten Teil  Kaschmirs wurden Zehntausende getötet. Es kam zu Folterungen und anderen  Greueln. Das war eine ziemlich üble Sache. In ihrem aktuellen Artikel  schreibt Roy, Kaschmir sei die militarisierteste Region der Welt. Seit  damals hat es mehrere Versuche gegeben, kontrollierte Wahlen  durchzuführen, da Indien seine Kontrolle über die Region festigen will.  Eigentlich braucht man nur genau hinzusehen, um zu erkennen, dass der  Ruf nach Autonomie und Selbstbestimmung (in der ein oder anderen Form;  es gibt viele Möglichkeiten) sehr dringlich ist. Allerdings stellt sich  die Frage nach der Umsetzung. Die Umsetzung ist durchaus kein kleines  Problem. Doch man könnte nach vernünftigen Lösungen für die  verschiedenen Regionen Kaschmirs suchen. Unterschiedliche Regionen haben  natürlich unterschiedliche Interessen und Zielsetzungen.
Pattanayak:
Was  halten Sie von der maoistischen Bewegung Indiens? Steht sie für den  Kampf einer indigenen Bevölkerung für Selbstbestimmung oder halten Sie  die Sache für einen revolutionären, kommunistischen Kampf um Kontrolle,  um die politisch-ökonomische Macht?
Noam Chomsky:
Nun,  zunächst möchte ich den Eindruck vermeiden, dass ich eine Menge über  dieses Thema weiß - tue ich nicht. Doch soweit ich informiert bin, ist  beides richtig. Es gibt die so genannten "maoistische Revolutionäre".  Sie bezeichnen sich als Maoisten - was immer das heißen mag. Es gibt  aber auch eine Basis im Volk. Die Regionen, um die es sich handelt, ist  im Grunde Stammesgebiet. Hier leben die Menschen, die in Indien am  meisten unter der Repression zu leiden haben. Sie haben ihre eigene  Lebensweise, ihre eigenen Gesellschaftsformen, funktionierende  Gesellschaften -  in den Wäldern, in ihren Stammesgebieten. Im Grunde  versucht die Regierung, in diese Regionen einzudringen, um ihnen die  Lebensgrundlage zu entziehen, die Basis für ihre Gesellschaftsform,  indem sie ihre Ressourcen wegnimmt, durch Bergbau und so weiter. Doch  die Menschen setzen sich zur Wehr. Sie wollen ihre Lebensgrundlage  retten. Solche Dinge sehen wir überall auf der Welt.
Im  vergangenen Sommer war ich in Südkolumbien und besuchte dort gefährdete  Dörfer - Gemeinschaften, die unter großem Druck stehen. Kolumbien ist  weltweit das Land mit den meisten intern Vertriebenen - gleich nach dem  Sudan. Der Grund für die Vertreibungen sind Angriffe auf indigene  Regionen - meistens. Die dortigen Dorfbewohner/innen verhalten sich   ähnlich (wie die Indigenen Indiens): Sie versuchen, Möglichkeiten zu  finden, um... Ein Dorf, das ich einmal besucht habe, versuchte zum  Beispiel, einen nahegelegenen Berg und ein Stück unberührten Regenwald  vor dem Bergbau zu retten, weil sonst die Gemeinschaft und damit ihr  Leben zerstört worden wäre. Außerdem hat man versucht, ihnen ihre  Wasserquellen zu nehmen. Sie sind arm, aber ihre Lebensweise  funktioniert. Sie möchten weiter so leben, wie sie leben, und das aus  gutem Grund. Man findet dieses Phänomen überall auf der Welt. Im  nordamerikanischen Appalachen-Gebirge werden die Berggipfel für eine  äußerst billige Variante der Kohleförderung missbraucht. Dabei kommen  Täler, Flüsse, Ökosysteme und ganze Gemeinden unter die Räder. Doch die  Menschen leisten Widerstand. Ich denke, dass solche Dinge auch in den  Stammesgebieten (Indiens) geschehen. Die fieberhaften Suche nach  Ressourcen - ohne Rücksicht auf die Folgen für Mensch und Umwelt -, ist  ein wesentlicher Teil des globalen Phänomens.
Pattanayak:
Ja.  In gewisser Weise ist es die Fortsetzung der Geschichte der indigenen  Völker Indiens. Seit den 60ger Jahren gibt es jedoch organisierte  revolutionäre Bewegungen unter den Unterdrückten (dieser Regionen)...
Noam Chomsky:
Oh,  yeah, angefangen bei den Naxiliten-Bewegungen. Das war natürlich eine  sehr wichtige Sache. In einigen Regionen - wie Westbengalen - spielten  sie eine wichtige Rolle für die Landreformen, für die Entstehung  bäuerlicher Dorfgemeinschaften und so weiter. Wie gesagt, ich maße mir  nicht an, sehr viel darüber zu wissen. Allerdings habe ich damals einige  (dieser Dörfer), zusammen mit einem Freund, besucht. Er ist Agroökonom -  und außerdem Finanzminister seines Landes. Ich bin ihm zufällig  begegnet, als er in den USA studiert hat. Wir besuchten gemeinsam ein  'Panchayat' in Westbengalen und erlebten dort viele beeindruckende  Dinge. Das sind die Früchte der Naxaliten-Revolution... Aber es gab auch  negative Früchte, wie Brutalität und andere üble Dinge. 
Pattanayak:
Unsere  Nationalstaaten wirken immer mehr wie Großkonzerne. Wird dieser Trend  anhalten, was meinen Sie oder wird die Globalisierung auf Dauer den  nötigen Gegenwind erfahren, wird sie im Laufe der Geschichte  dahinschmelzen?
Noam Chomsky:
Ich glaube, dass sich derzeit  überall auf der Welt eine Menge komplizierte Prozesse abspielen -  allerdings nicht in allen Nationalstaaten. Am deutlichsten zeigt sich  das am Beispiel Lateinamerika, wo in den vergangenen 10 Jahren  entscheidende Schritte in Richtung Integration und Unabhängigkeit  eingeleitet wurden sowie maßgebliche Schritte zur Einbindung der Massen  in die politischen Prozesse. Lateinamerika hat gegen ernste interne  Probleme zu kämpfen. Doch kein Vergleich zu Indien - zu dieser Insel des  Reichtums inmitten enormer Armut und enormem Elend. Indien entwickelt  sich in die entgegengesetzte Richtung. Die reichen, hochentwickelten  Staaten - einige von ihnen liegen im asiatischen Raum -, gehen ihren  eigenen Weg. Nehmen wir die USA, England und den überwiegenden Teil  Europas. Was Sie beschrieben haben ("unsere Nationalstaaten wirken immer  mehr wie Großkonzerne"), kann man durchaus sagen, wenn auch mit  Einschränkungen. Das heißt, was wir in weiten Teilen der Welt sehen,  einschließlich China und Indien, ist eine globale Machtverschiebung. Die  arbeitende Bevölkerung wird ent-machtet; die Macht gleitet in die Hände  der Manager, der Investoren, der Eigner, der hochbezahlten Profis, der  elitären Elemente usw. über. Überall herrscht eine enorme Kluft zwischen  den Klassen.
Pattanayak:
Absolut.
Noam Chomsky:
Nehmen  wir zum Beispiel die USA. Die Ungleichheit in den Vereinigten Staaten  war noch nie so groß, seit den 20ger Jahren. Wenn man genau hinschaut,  war sie noch NIE so groß. Dies ist das Ergenis eines enormen Fischzuges  einer hauchdünnen Schicht der Bevölkerung. Sie besteht aus Managern,  Hedgefonds-Verwaltern, Eignern und so weiter - aus rund einem Prozent  der Bevölkerung. Die Konzentration wirtschaftlicher Macht (durch das  Konzernsystem und zunehmend auch durch das Finanzsystem) verläuft Hand  in Hand mit der Konzentration politischer Macht. Diese Mahtkonzentration  im ökonomischen Bereich schlägt sich massiv auf die globalen Prozesse  nieder. Die Politik von Staat/Konzernen hat in den vergangenen  Jahrzehnten auf viele Bereiche Einfluss genommen - von der Fiskalpolitik  (Festlegung der Steuern) bis zum Entwurf interner Regeln für Konzerne,  die von der Regierung mitgestaltet werden und so weiter. Dies alles  dient dem Zweck, scharfe, repressive Klassenunterschiede zu schaffen.  Das ist die Realität, und diese Realität hat eine Menge mit der Wut und  der Unzufriedenheit der Menschen zu tun. Natürlich sprechen wir nicht  von Zuständen wie in der so genannten 'Dritten Welt', aber die Einkommen  der Menschen in den reichen Ländern stagnieren seit 30 Jahren - während  der Reichtum enorm angeschwollen ist. Die Menschen leben nicht im  Elend, aber ihr Leben ist schwierig geworden. Das Thema Arbeitslosigkeit  betrifft weite Teile der Bevölkerung. Die Arbeitslosenrate (in den USA)  liegt auf dem Niveau der Depressionsjahre - und Besserung ist nirgends  in Sicht. Die Situation in den USA ist mittlerweile extrem. In England  und in verschiedenen anderen Ländern sieht es nicht viel besser aus -  oder in China. Auch dort gibt es heute diese enorme Kluft. China ist,  global gesehen, eines der extremsten Beispiele, und Indien ist ohnehin  eine Klasse für sich...
Pattanayak:
Ist den meisten Menschen eigentlich bewusst, dass sie in einer Klassengesellschaft leben oder verdrängen sie es lieber?
Noam Chomsky:
Die  Geschäftsleute in den USA - die 'business class' - besitzt eine Menge  Klassenbewusstsein. Im Grunde sind es Marxisten. Wenn du ökonomische  Fachliteratur wälzt, hast du das Gefühl, du liest in dem kleinen roten  Buch. Die schreiben von der Gefahr der organisierten Massen, von der  Gefahr, die von diesen Massen für die Industriellen ausgehe und so  weiter. Sie stellen sich dem erbitterten Klassenkampf. Die letzten Jahre  waren dramatisch. Was den Rest der amerikanischen Bevölkerung angeht,  so ist die Sachen nicht so eindeutig. In den USA wird das Wort 'Klasse'  extrem tabuisiert. Die USA sind eines der wenigen Länder, in denen...
Pattanayak:
Das Wort 'Klasse' ein Tabu?
Noam Chomsky:
Ja,  es wird tabuisiert. Alle denken, sie gehören zur Mittelschicht. Eine  Freundin von mir lehrt Geschichte an einem staatlichen College. Am  ersten Tag, wenn ein neues Semester beginnt, fragt sie ihre Studierenden  manchmal, zu welcher Klasse sie sich zählen. Im Grunde bekommt sie  folgende Antworten: Mein Vater sitzt im Gefängnis, also zähle ich zur  Unterschicht; mein Vater ist Hausmeister, also zähle ich zur  Mittelschicht, und weil mein Vater mit Aktien handelt, zähle ich zur  Oberschicht. Die traditionelle Vorstellung von Klassenzugehörigkeit  wurde den Leuten ausgetrieben. Doch ganz gleich, ob sie nun einen  Terminus dafür haben oder nicht, sie wissen, worum es geht. Die Leute  wissen sehr wohl, ob sie der Boss sind oder ein Befehlsempfänger. Sie  wissen, ob sie bei Entscheidungsprozessen eine Rolle spielen oder nicht.  DAS ist es, was den Klassenunterschied ausmacht.
Pattanayak:
Welche Botschaft haben Sie für unsere Leserinnen und Leser?
Noam Chomsky:
Meine  Botschaft - die Botschaft - lautet: Nehmt das, was ich beschrieben  habe, nicht zu schwer, sondern denkt daran, was in Ägypten geschehen  ist, auf dem 'Platz der Befreiung'. Dort wurde Volksaktivismus  demonstriert, Mut und Entschlossenheit. Es war eines der spektakulärsten  Beispiele, an das ich mich erinnern kann. Diese Menschen sind keinen  Anführern hinterhergelaufen. Am darmatischsten finde ich das hohe Maß an  Selbstbestimmung: Die Menschen haben Selbstverteidigungsgruppen  gegründet, um sich gegenseitig vor den Schlägern der Regierung zu  schützen. Sie bilden Gruppen, um eine neue Politik zu entwerfen und um  mit anderen in Kontakt zu treten. Ja, so muss es laufen, damit ein  Ergebnis erzielt wird. Wissen Sie, manchmal, wenn sich eine  Volksbewegung entwickelt, kristallisieren sich Führer heraus. Das ist  meist eine ungute Sache. Niemand sollte sich auf andere verlassen - auf  deren Ratschläge und Anweisungen. Im Grunde kann jede(r) die Antworten  alleine finden - denn die entscheidenden Antworten kommen von den  Menschen selbst.
Der TAGESSPIEGEL eine Heuschrecken-Zeitung und Eliten-propaganda Klassenkampfinstrument schreibt diesen Artikel
Noam Chomsky Amerikas zorniger Guru
  Noam  Chomsky ist als Sprachwissenschaftler berühmt geworden und als harscher  Kritiker der US-Außenpolitik. Beim Vortrag des 82-jährigen  Globalisierungskritikers in Köln passten 1000 in den Saal, aber 2000  wollten ihn hören. 
Eine Stunde vor Einlass ist auf den Treppen im Hauptgebäude der  Kölner Universität kein Durchkommen mehr. Die Menschen stehen Schlange  über zwei Stockwerke bis ins Foyer, wo eine Leuchttafel den Stargast des  Abends verkündet: „Willkommen, Noam Chomsky". Provokateur,  Intellektueller, Ultralinker, Außenseiter – eine Legende. Türsteher  sichern die Eingänge. 1000 Zuhörer passen in den Saal, über 2000 sind  gekommen. Den Abgewiesenen bleibt ein Livestream im Internet.
  Noam Chomsky ist als Sprachwissenschaftler berühmt geworden und als  harscher Kritiker der US-Außenpolitik. Jubel empfängt den 82-Jährigen,  als er die Aula betritt. Er nickt kurz, fängt sofort an.
Kein  Grußwort, kein Dank für die AlbertusMagnus-Professur, die ihm die Uni  verliehen hat. Chomsky hat keine Zeit zu verlieren; eineinhalb Stunden  lang dauert seine Abrechnung mit der Globalisierung und der  Vormachtstellung der USA – eine wütende Anklage, die er frei vorträgt,  ohne auch nur einmal die Stimme zu heben.
 Chomsky, der Guru, ist  unbequem, auch für seine Jünger. Er spricht leise, betont kaum, die  Aneinanderreihung von langen Sätzen verlangt höchste Konzentration. So  webt er seine Angriffe scheinbar nebensächlich ein, trägt sie höflich  vor, man überhört sie beinahe. „Obama, übrigens einer der reaktionärsten  Präsidenten überhaupt, lächelt immer so freundlich", sagt er und  lächelt. „Er sagt den anderen Regierungen nicht, dass sie irrelevant  sind. Deshalb mögen sie ihn." Messerscharfe Attacken, 90 Minuten lang.
  Chomsky skizziert ein Endzeitszenario: Der aktuelle „amerikanische  Niedergang" sei eine Konsequenz der US-Politik. Die rücksichtslose  Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen habe zunehmende soziale  Ungleichheit zur Folge und immer mehr Hass im Ausland. Zudem führe die  Weigerung der USA, den Klimawandel anzuerkennen, zu einem Risiko, das  auch die Steuerzahler nicht auffangen könnten: dem Ende der menschlichen  Spezies.
 Immer wieder gibt es Zwischenapplaus. Wie umstritten  der Theoretiker ist, wie stark seine Thesen polarisieren, bleibt  ausgeblendet. Dabei erwarb sich Chomsky seine Glaubwürdigkeit gerade  dadurch, dass er seinen Zorn seit einem halben Jahrhundert unbeirrt zum  Ausdruck bringt, unabhängig vom Zeitgeist. Politisch aktiv wurde der  1928 in Philadelphia geborene Wissenschaftler, der schon mit 32 als  Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology (MIT)  lehrte, während des Vietnamkriegs. Seitdem kritisierte er sämtliche  militärischen Einsätze der USA und gab George W. Bushs Politik nach 9/11  eine Mitschuld daran, dass „sie uns hassen". Als 2001 viele an ein  schnelles Ende des Kriegs gegen den Terror glaubten, fragte Chomsky:  „Wie hoch wird der Preis sein für den Sieg über bin Laden und die  Taliban?"
 Selbstverteidigung, Stabilisierung oder humanitäre  Rettungsaktion – Chomsky erkennt solche Beweggründe für Militäreinsätze  nicht an. In Köln verurteilt er auch die Libyen-Intervention. „Die  Erörterung individueller Absichten ist zwecklos, weil die eigentlichen  Triebkräfte in den ökonomischen Interessen von Institutionen der  Führungsschichten liegen", so beschrieb die US-Autorin Larissa  MacFarquhar Chomskys Weltbild im „New Yorker". Für ihren Essay „Des  Teufels Buchhalter" hatte sie den MIT-Professor monatelang begleitet.  Chomsky rechnet Tote gegeneinander auf, vergleicht scheinbar  Unvergleichbares. Damit provoziert er nach wie vor. Er fragt in Köln,  warum der Iran keine Atomindustrie haben dürfe, aber Israel und das  repressive Regime in Saudi-Arabien sehr wohl. Weil Letztere sich an die  Regeln der Amerikaner hielten?
 Neben der Provokation und der  Aufforderung zum Auflehnen skizziert Chomsky in Köln kaum  Alternativen.„Utopia interessiert ihn nicht", stellte MacFarquhar fest.  Der Zorn sei seine einzige Antriebsfeder. Und so bleibt es bei Appellen.  Wer die Entwicklung nicht stoppt, warnt Chomsky, dem bleibt nichts  anderes übrig, als die Ruinen dieser Welt zu betrachten.